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- Susanne Richter
Susanne Ritter begegnet dem Fremden. Sie nähert sich dem Fremden an. Nicht, um das Fremde von seiner Fremdheit zu befreien; sie nähert sich dem Fremden, das der größere Teil ihrer und unserer Welt ist, an, um es zu erfassen, zu erspüren, kennen zu lernen, offen lassend, ob ein Teil der Fremdheit sich in der Annäherung in Vertrautheit wandelt, in Bekanntheit zumindest. Susanne Ritter begegnet dem Fremden - auf Schritt und Tritt. In Gestalt von Passanten auf den Straßen. Sie blickt sie an, sieht ihnen ins Gesicht - mit dem erkennenden und schnell erfassenden Blick einer, die im Schauen und Erfassen geübt ist. Wenn der Funke überspringt - und noch immer kann Susanne Ritter nicht sagen, wann und warum es funkt - wenn also der Funke überspringt, dann über- windet sie den 1. Graben der Fremdheit und spricht die Frau oder den Mann auf der Straße an und bittet sie oder ihn, ihr für eine Zeichnung Modell zu sitzen. Nichts möchte sie erfahren von ihrem Modell außer seinem Namen: keinen Beruf, keinen Familienstand, keine Herkunft, keine politische Meinung, keine Ansichten über das Leben - all diese Dinge, die in vielen Kontakten dominieren und das Bild eines Menschen zu überlagern drohen - werden bewusst weggelassen. Die Fremdheit und Anonymität ist für Susanne Ritters künstlerische Annäherung Voraussetzung für den möglichen Weg zur Bekanntheit. Das fremde Gesicht ist in seiner Fremdheit und Anonymität dem (heutzutage wohl nicht mehr existenten) weißen Fleck auf der Landkarte vergleichbar: alles ist neu und neu zu entdecken, alles ist möglich, es gibt keine Vor-Festlegungen, keine Vor- Urteile.
Dieses fremde Gesicht zeichnet Susanne Ritte also während eines Treffens mit dem Modell. Die Zeichnung ist die Grundlage für das Bildnis des Modells, doch auf dem Weg dahin erfährt sie, die Zeichnung, eine fortschreitende Abstrahierung und eine vorübergehende Loslösung vom Gesicht des fremden Menschen: die Zeichnung nämlich wird stark vergrößert - wie Sie sehen, sind Susanne Ritters Bildnisse über-lebensgroß - bis sie sich als ein Geflecht abstrakter Linien darstellt. Indem die Malerin sich zudem die Freiheit nimmt, den Kopf anzuschneiden, verstärkt sie den Eindruck der Abstraktion. Das Liniengeflecht füllt Susanne Ritter mit Hilfe einer malerischen Technik auf, die auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblickt: sie arbeitet mit Eitempera, auf die sie mit bis zu 40 Schichten Acrylfarben das Brustbild des Modells wieder aufbaut. Sie "erfindet es neu", wie die Malerin mit den Worten von Gertrude Stein sagt, was keineswegs bedeutet, dass sie ein neues Gesicht erfindet - im Gegenteil, jede und jeder der von ihr Gemalten erkennt sich unmittelbar wieder.
In einer Zeit hoher Beschleunigung entschleunigt Susanne Ritter die Zeit und Vorgehensweise einer Annäherung an das Fremde. Annäherung gelingt - wenn überhaupt - selten rasch. Das fertiggestellte Bildnis, das als Titel nur den Namen des Gemalten erhält, formuliert die Annäherung ebenso wie eine unüberbrückbare Distanz, Präsenz ebenso wie starre Unbewegtheit, Vitalität ebenso wie Passivität, Realität ebenso wie ein entrücktes Nicht-von-dieser-Welt-Sein, das Fremde ebenso wie das Vertraute, Personifizierung wie Typisierung. Es sind Bildnisse voller Widersprüche, so widersprüchlich, wie der Kontakt zum Fremden eben ist.
Das ist die eine Seite: Susanne Ritter ist dem Fremden begegnet und hat sich ihm angenähert - auf ihre Weise, nämlich der malerischen.
Die andere Seite: auf der stehen wir, die Betrachter. Der Versuch einer Annäherung findet auch zwischen uns und den auf den Bildnissen Gemalten statt, vielleicht sogar der Versuch eines Dialogs? Wir suchen seinen und ihren Blick, der doch fast immer an uns vorbei- und sowieso durch Dinge und Menschen hindurchgeht. Wir suchen nach dem Vertrauten im Fremden, suchen das Individuum hinter dem Typischen, das Typische hinter dem Individuellen. Suchen nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen den hier ausgestellten 17 Bildnissen, verlieren uns in ihnen, bleiben förmlich an ihnen und in ihnen hängen und spüren das Meditative und die Ruhe, die von ihnen ausgeht. Stellen Vergleiche mit uns bekannten Menschen an und wundern uns über die Parallelen in Mimik und Farbgebung zu Bildnisse italienischer Renaissancemaler. Wir beobachten nicht zuletzt die feinen farbigen Schattierungen, die Wärme und Plastizität hervorrufen, bewundern die professionelle Malweise.
Wir beobachten Susanne Ritters und damit unsere Zeitgenossen, die hier um uns herum versammelt sind. Zeitgenossen, "Menschen wie Du und ich". Keine Models, also keine makellosen, perfekten Menschen (Gott sei dank!). Und dennoch: sie scheinen seltsam entrückt und rätselhaft zu sein, außerhalb unserer Zeit und unseres Raumes zu leben.
Als mein Sohn das Bildnis von Birgitta Wehner sah, fragte er sich, ob es eine Madonna sei. Warum nicht?
Susanne Ritters Bildnisse fordern von uns Entschleunigung auch bei der Bildbetrachtung, die mehr als eine Betrachtung ein Sich-Vertiefen sein muss.

©Sigrid Blomen-Radermacher
Eröffnung der Ausstellung
Susanne Ritter, Bildnisse
Temporäre Galerie von Schloss Neersen
am 2.9.2001





Patrycja
1999
Tempera/Acryl auf Leinwand
130 x 120 cm
©Susanne Ritter