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Schauplätze einer Vorstadt - Pontaul-Combault

Eröffnung der Ausstellung in der Galerie Hrobsky, Wien, am 16. Januar 2010



Lotte Seyerls Bilder haben etwas merkwürdig Magisches für mich. Ich stelle mir oft vor, ich könne in sie eintreten und damit ein Teil von ihnen werden. Will ich das überhaupt? Denn: Sie ziehen mich an und halten mich zugleich auf Distanz. Lebt diese gemalte Stadt? Schläft sie? Nahezu leere Gassen, weite Plätze, hier und da mal ein Mensch, mal eine kleine Gruppe von Menschen. Oft bewegen sie sich soeben aus dem Bild hinaus, so dass wir lediglich ihre Rückenansicht zu Gesicht bekommen. Unter dem Schleier der Unschärfe verbergen sich alle individuellen Erkennungszeichen. Bänke laden zum Verweilen ein, Pavillons zur Begegnung und zur gemeinsamen Unterhaltung. Nicht immer wird diese Einladung sichtbar angenommen. Weiße Häuser vor dunklem Himmel fordern den Betrachter weniger auf, in sie hineinzutreten und den Bewohnern zu begegnen als sie außen vor zu halten. Die Fenster der Häuser wirken verschlossen, auch wenn sie es tatsächlich nicht sind. Wenig Farbe herrscht dort. Weiß, grau und schwarz sind die vorherrschenden Töne der Acryl- und Tuschebilder. Selten tauchen Farbkleckse in Form von blauen Verkehrsschildern, roten Dächern, farbigen Schatten wie Fremdkörper in einer rätselhaften Welt auf.

Die Zeit stehe still, dort, in Pontault-Combault, sagt Lotte Seyerl. Im vergangenen Jahr reiste sie in das etwa
30 Kilometer östlich von Paris gelegene Pontault-Combault, um ihre Cousine zu besuchen. Mit deren Ehemann, dem ehemaligen Vizebürgermeister, spazierte sie durch die ca. 40.000 Einwohner zählende Stadt und lernte sie auf eine besondere Weise, nämlich  durch die Augen eines Mannes kennen, der eine spezielle, sowohl politische als auch private Beziehung und Verbindung mit den Menschen von Pontault-Combault,mit der Entwicklung dieser Stadt im Schatten von Paris, besitzt.

Seit langem schon beschäftigt sich Lotte Seyerl in ihrer Malerei mit der Erforschung und Darstellung von - eher melancholischen, wie es scheint  - Atmosphären und Stimmungen, seien es die in der Großstadt,  in Vororten und Kleinstädten, seien es die am Meer, im Gebirge oder im Flachland.

Mit der Wahrnehmung einer Malerin sieht Lotte Seyerl in Häusern, Türmen, in Fragmenten aller Art ein Gemälde. Mit der Fotokamera hält sie die Beobachtungen vor Ort fest. Im Atelier beginnt sie dann, das Aufgenommene genauer zu untersuchen, eine Untersuchung, die sie erst intellektuell und dann malerisch vornimmt. Immer geht es dabei um die Fragen der Anonymität von Städten, um Fragen von  Verbindlichkeit oder Unverbindlichkeit eines Ortes, es geht um Fragen von Nähe und Distanz, es geht um existenzielle Fragen des Findens und Erhaltens von Identität in einer Kleinstadt. Lotte Seyerl selbst nähert sich der Stadt Pontault-Combault aus der Distanz der Beobachterin, sie nimmt als zunächst erst einmal Fremde und Außenstehende wahr und auf. Zu den Untersuchungen gehört es, ein Motiv aus unterschiedlichen Blickwinkeln, zu unterschiedlichen Zeiten gesehen zu wiederholen, das Fremde im mittlerweile Fast-Vertrauten hervorzuholen. Oder das Fast-Vertraute im noch-immer-Fremden zu entdecken.

Wir wiederum, die Betrachter der Bilder von Lotte Seyerl, stehen auf einer weiteren Ebene des Außen-Vor, distanziert und beobachtend, den Sog ins Bild, der existiert, zweifelnd abwägend, die Identifikation mit den Menschen der Stadt tastend ausprobierend.  Vielleicht froh, auf dieser Seite der Betrachtung zu stehen.

Künstlerisch steht auf der einen Seite die Welt der Fotografie: ein schnelles Medium, das eine Momentaufnahme oder eine Situation aufnimmt, die in der nächsten Sekunde vorübergegangen sein wird, das ein gesehenes Objekt, eine gesehene Szene einfriert. Die Fotografie als Medium, das lange als objektiv betrachtet wurde, das aber genauso individuell wie der Blick eines jeden Menschen ist, der eben genau die Perspektiven, Szenen und Menschen auswählt, der genau diese Stimmung, genau dieses Licht einfängt.

Auf der anderen Seite steht die Welt der Malerei: ein Medium, das sich Zeit lässt - sowohl in der Herstellung als auch in der Betrachtung. Und ein Medium, das Zeit bewahrt. Das den individuellen Blick der Künstlerin wiedergibt, der durch Pinsel und Farbe verfremdet und verwandelt, dabei aber Stimmungen und Szenen selbstständig entwickelt – und scheinbar unabhängig von einer gesehenen Realität agieren kann.

Bei Lotte Sey
erl treffen diese beiden Medien und Welten aufeinander. Werden miteinander verschmolzen. Bedingen sich gegenseitig. Verändern einander. Aus dem Zusammentreffen der Welt der Fotografie mit der Welt der Malerei entsteht bei Lotte Seyerl eine dritte Welt: eine verschwommene, verschleierte, unscharfe und verrätselte Realität. Hier verschmelzen auch Menschen mit Häusern, Straßen und Wegen. In jedem der Bilder ist die ursprüngliche, die bekannte Realität der Vorstadtstraßen und -plätze zu spüren. Farbe und Pinselstrich der Malerin allerdings legen sich wie eine Distanz zwischen diese aus der Nähe betrachtete alltägliche Szene und das Bild, das der Betrachtende untersucht. Gesehenes wird zunehmend abstrahiert, in Farbe und Form. Der Eingriff der Künstlerin, ihr malerischer Kommentar zum Gesehenen und Fotografierten, macht das Bekannte neu und unbekannt, macht das Graue und Trübe nebulös und rätselhaft, macht Menschen zu Schauspielern in einem inszenierten Theaterstück, in dem eine unwirklich gewordene, wie ein Schemen ihrer selbst wirkende Stadt als Bühne fungiert.

Eine Stadt im Schatten von Paris ist Pontault-Combault. An der Peripherie gelegen, ein Stück
entfernt vom wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum Frankreichs. Der Begriff des Peripheren wird oftmals im abfälligen Sinne verwendet: An der Peripherie stehe man Außen vor, am Rande, habe keinen Anteil und keine Beteiligung an dem pulsierenden Zentrum. Wobei man einwenden könnte, dass die Peripherie ohne ein Zentrum gar nicht existieren könnte. Umgekehrt natürlich ebenso. Peripherie und Zentrum bedingen einander. Möglich, dass vom Blickwinkel der Peripherie aus eine klarere Sicht auf das Zentrum mit seiner Öffentlichkeit, mit seinem scheinbar aktiven pulsierenden Leben gelingt. Ein Blick aus der Distanz, der daher die Dinge um so deutlicher macht, die derjenige nicht bemerkt, der drinnen steht.

©Sigrid Blomen-Radermacher